Gesellschaft

Stephen King: Die Leiche

Inhalt:

In einer heißen Sommernacht brechen der zwölfjährige Gordie und seine drei Freunde in die Wälder Maines auf. Die Leiche eines vermissten Jungen soll dort irgendwo an den Bahngleisen liegen. Schon bald erfahren sie, dass Monster nicht etwa unter dem Bett oder im Schrank auf einen lauern, sondern sich in jedem von uns verstecken. (Klappentext)

Rezension:

Der letzte Sommer der Kindheit hält mitunter Magisches bereit und das eine oder andere große Abenteuer. Dies ist es, was der Schriftsteller Stephen King 1982 in seiner Novelle „Die Leiche“ beschrieben hat und auch in einigen seiner anderen Geschichten hier ebenso zur Perfektion getrieben hat. Melancholisch angehaucht ist die Erzählung, in der der Großmeister
amerikanischer Literatur Realität mit Fiktion verwoben hat.

Schnell findet man hinein und beginnt sozusagen einen Roadtrip zu Fuß, aus der Sicht des zwölfjährigen Hauptprotagonisten Gordie, der sich mit seinen Freunden auf den Weg
macht, um die Leiche eines gleichaltrigen Jungen zu finden, der in der Gegend verunglückt sein soll.

Die Aussicht auf den Fund, eine Bande älterer Jugendlicher trüben die Ereignisse, zudem hat jeder der vier sein Päckchen zu tragen, was zumeist mit den älteren Brüdern oder der Familienbande allgemein zusammenhängt. Auf den Weg, der unbewusst zum Ziel selbst wird, kommen Ängste, Hoffnungen und Träume zum Vorschein. Besonders der Hauptprotagonist und sein bester Freund Chris werden über sich hinauswachsen müssen. Gelingt das?

Ich versuchte nicht, ihm etwas anderes zu erzählen. Man erschrickt, wenn man erfährt, dass ein anderer, und sei es ein Freund, genau weiß, wie schlecht es um einen bestellt ist.

Stephen King: Die Leiche

Kurz gesagt, ja. Stephen Kings Fähigkeiten, sich mehr oder weniger in vielen literarischen Genres zu bewegen, dürfte mittlerweile unbestritten sein, doch diese Novelle ist unter seinen Werken, natürlich neben „Es“ ein Klassiker, auf den man sich einlassen kann. Auch hier schafft der Autor wieder ein Gefüge von Kindern und lässt unterschiedliche Charaktere aufeinanderprallen, dies innerhalb eines sensiblen kleinstädtischen Gefüge, welches man wohl schon damals zu den abgehängten Regionen Amerikas zählen dürfte.

Über einen Zeitraum von einigen Tagen erstreckt sich die Geschichte, die mit Rückblenden und nicht zuletzt der Phantasie des erzählenden Hauptprotagonisten breiter aufgefächert wird. Zudem wird aus dem Off erzählt, sozusagen aus der Vogelperspektive des Erwachsenen, der die Geschehnisse der Vergangenheit reflektiert.

Das funktioniert wunderbar, wobei besonders die Konstruktion der Gegensätze gelungen ist. Die befreundeten Kinder, noch unschuldig, neugierig einerseits, die jedoch mehr verstehen, als die meisten Erwachsenen glauben, die der Jugendlichen, die bereits abgehängt sind, bevor sich ansatzweise Chancen auftun könnten.

Freunde kommen und gehen wie Kellner im Restaurant, oder ist das bei euch anders? Wenn ich jedoch an den Traum denke, an die Leichen im Wasser, die mich erbarmungslos herabziehen wollen, dann erscheint es mir richtig, dass es so ist. Ein paar ertrinken, das ist alles. Es ist nicht fair, aber es passiert. Ein paar ertrinken.

Stephen King: Die Leiche

Interessant hierbei übrigens die Parallele zur späteren Verfilmung „Stand by me“, deren Kinderdarsteller real schablonenartig ähnliche Schicksalsschläge erleiden müssen, wie sie auch der Autor für seine Protagonisten erdacht hat. Wer die Verfilmung kennt, es ist beinahe so, wenn auch nur marginal, als hätte Stephen King etwas vorweg genommen, um dies dann zu verarbeiten. Auf ein paar seiner Kindheitserlebnisse, die sich dort wiederfinden, trifft auch das zu.

Trotzdem liest sich das leicht, die Handlung ist nachvollziehbar, sowie auch die Charaktere der einzelnen Protagonisten bis hin zu den Nebenfiguren wunderbar ausgestaltet sind, was lt. Rezensionen einiger neuerer Werke von Stephen King dort nicht immer der Fall ist.

Abwechslung bringen die Einschübe in Form von Geschichten, die der Hauptprotagonist seinen Freunden erzählt etwa, und später als Schriftsteller zu Papier bringen wird. Auch dies ist ein wiederkehrendes Element. Der kindliche Protagonist ist später Schriftsteller. Auch ein manchmal unvorhersehbarer Autor hat eben seine Schablonen und Motive, die immer wieder funktionieren und ja, mitunter auch erwartet werden.

Wechsel, Rückblenden und Einschübe erhöhen hier die Spannung einer Geschichte, bei der man schnell ahnt, wie sie ausgehen könnte, was jedoch nicht stört, da diese Coming of Age Erzählung damit spielt und den Bogen nicht überreizt. Tatsächlich wird man in ein Amerika hinengezogen, welches es noch vor gar nicht allzu vielen Jahren gab. Alleine schon dafür lohnt es sich. Hier können alle etwas für sich herausziehen.

Wir wussten genau, wer wir waren und wohin wir wollten. Es war herrlich.

Stephen King: Die Leiche

Wer gerne Coming of Age, Roadtrips (zu Fuß) liest, liegt hier ebenso richtig, wie jene, die sich einfach vom Setting begeistern lassen oder vom Aufeinanderprallen gegensätzlicher Charaktere, wenn auch mein Bild der Figuren durch die Schauspieler geprägt wurde. Den Film sah ich nämlich zuerst, ohne zu wissen, auf welchen Roman dieser beruht. Macht hier nichts. Die Umsetzung ist super, ohne qualitative Abstriche.

Zurück zur Novelle. Die funktioniert so ziemlich für alle. Jugendliche und Erwachsene. Letztere erinnern sich gleichsam an den Sommer, den sie als den letzten ihrer Kindheit definieren dürften, an all die kleinen und großen Abenteuer, Schwierigkeiten und Probleme, denen man ausgesetzt war, wogegen jüngere Lesende an die Hauptprotagonisten altersbedingt einfach nah dran sind. Zudem, was hier im amerikanischen Nirgendwo stattfindet, könnte man auch mühelos in ein bayerisches Kuhdorf und Umgebung dieser Zeit verfrachten. Das würde wohl ähnlich funktionieren.

Diese Geschichte aus der Feder Stephen Kings, der noch viele weitere folgen sollten (und hoffentlich noch folgen werden), ist zudem ein wenig herausgestellt, da sie keine
übernatürlichen Elemente enthält und statt Horror eher unterschwelligen Grusel, und das auch nur ganz leicht. Das hat mir sehr gut gefallen. So kann es dafür nur eine klare Leseempfehlung geben.

Autor:

Stephen Edwin King wurde 1947 in Portland, Maine, geboren und ist ein US-amerikanischer schriftsteller. Unter verschiedenen Pseudonymen und unter seinem eigenen Namen verfasste er vor allem Horror-Literatur, aber auch zahlreiche Kurzromane. Seine Bücher wurden in über 50 Sprachen übersetzt, womit King zu den meistgelesensten und kommerziell erfolgreichsten Autoren der Gegenwart zählt.

Nach der Schule studierte er Englisch, unterrichtete in diesem Fach und arbeitete in verschiedenen Berufen, bevor er seinen ersten Roman veröffentlichte. Sein Werk “Carrie” erschien 1974 in deutscher Übersetzung als erstes Werk von King. Zahlreiche seiner Werke wurden verfilmt.

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Empfehlung: Jose Eduardo Aqualusa – Barroco Tropical

Vorab: Außerhalb der ausführlich rezensierten Werke gibt es natürlich noch andere empfehlenswerte Literatur, die sicher in dem einen oder anderen Bücherschrank gehört und seine Fans sucht. Für diese gibt es die Kategorie -Empfehlungen- auf diesem Blog.

Dem Schriftsteller und Filmemacher Bartolomeu Falcato fällt eine Frau buchstäblich vor die Füße. Nicht aus heiterem Himmel, schon gar nicht freiwillig, sie ist tot. Eine rasante Odysee beginnt, die durch die Abgründe der angolanischen Hauptstadt Luanda führt. Bartolomeu geräöt in einen Strudel aus skrupelloser Gewalt, Liebe, Leidenschaft und Eifersucht. (abgewandelte Inhaltsangabe)

Der zwischen den Ländern Angola, Portugal und Brasilienpendelnde Schriftsteller Agualusa setzt damit die Wegmarken eines spannenden Settings, welches die Abgründe eines hierzulande nur stiefmütterlich behandelten Bündels aus Themen behandelt, die in der westlichen Welt kaum jemand auf den Schirm hat. Politische Korruption und Machtspiele mag der Eine oder andere noch mit gewissen Ländern in Verbindung bringen. Wie sieht es jedoch aus mit der Verfolgung von insb. Kindern und Jugendlichen als Hexen? Eine Praxis, geschürt durch einen alten Volksglauben, dem in den letzten Jahren zu viele Menschen zum Opfer gefallen sind.

In seinem Roman “Barroco Tropical” beschreibt der Autor einen chaotischen Trip, diesen Dschungel zu durchdringen, für den nicht nur der Hauptprotagonist all seine Sinne beisammen halten muss. Durchhaltevermögen und Konzentration sind auch bei den Lesenden notwendig.

Autor: Jose Eduardo Agualusa
Titel: Barroco Tropical
Seiten: 316
ISBN: 978-3-293-20913-8
Verlag: Unionsverlag
Übersetzer: Michael Kegler

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Isabela Figueiredo: Die Dicke

Inhalt:

Maria Luisa ist jung, intelligent, eigensinnig, eine gute Schülerin, die auch später konsequent ihren eigenen Weg verfolgt. Doch sie ist dick. Hoffnungslos dick. Dieser Umstand überlagert und beschädigt alles: ihre sozialen Kontakte, ihr Gefühlsleben, ihren Wirklichkeitsbezug. Neben ihrer dominanten Freundin Toni – schlank, schön, umschwärmt – ist sie “das Monster”, “der Blauwal”. Im Studium lernt sie David kennen, der ihren Körper begehrt, sich für ihr Aussehen schämt und schließlich die Beziehung beendet. Von den eigenen Eltern fühlt sie sich eingeschränkt, dennoch werden sie ihr nach deren Tod fehlen. Als Erwachsene fasst Maria Luisa den Entschluss, ihren Magen operativ verkleinern zu lassen. (abgeänderter Klappentext)

Rezension:

Melancholie und Wehmut ist den Portugiesen eigen. Diese Gefühle schwingen in sämtlichen Zeilen des Romans “Die Dicke” aus der Feder der Autorin Isabela Figueiredo mit, die in ihren Text so viele erzählerische Spielarten vereint, dass alle etwas daraus ziehen können. Tatsächlich ist dies ein Gesellschaftsroman, ein Text über und gegen Mobbing, gegen Perfektionismus und pro Nonkonformität. Es ist eine Geschichte von Selbstfindung, gegen das Stromlinienförmige, aus der Rolle der Außenseiterin, die sich behaupten und entdecken muss.

Erzählt wird sie aus der Sicht der jungen Maria Luisa, die zielstrebig ihren Weg zu gehen versucht, im Schatten der Eltern, später im Internat, im Berufsleben und Privatem jedoch auch immer den Blicken der anderen ausgesetzt sind. Das einzige Manko, Übergewicht, über das andere nicht hinwegsehen können, dieses kommentieren. Die Protagonistin härtet nach außen ab, um innerlich an den Blicken und Bemerkungen fast zu zerbrechen, um später dann selbst einen Schlusstrich zu setzen. Bis dahin ist der Weg steinig, voller Hindernisse. Eine Achterbahn der Gefühle ohnehin.

Sterben wäre vielleicht gar nicht so schwierig, wenn wir nicht Mitleid hätten mit uns selbst und mit dem, was wir zurücklassen, aber das Sterben zu überleben, dem wir lebend beiwohnen, das auf unseren Schultern lastet, erfordert Kaltblütigkeit und Mut.

Isabela Figueiredo: Die Dicke

Immer ist die Protagonistin zwar umgeben von anderen, doch steht sie im Zentrum der Erzählung, die gleich zu Beginn das Körperliche betont. Andere Figuren werden kaum fassbar, in jedem Falle mit Ecken und Kanten, wenn auch Maria Luisa nicht weniger schwierig wirkt. Es ist kompliziert, so könnte der nicht genannte Untertitel lauten. Wer vermeintliche Makel besitzt, für den stimmt das wahrscheinlich, doch sind diese Charaktere nicht dazu angetan, den Lesenden die Lektüre zu erleichtern. Es ist ein drückender Roman, zu Teilen sehr angestrengt. Wer nicht perfekt ist, leidet. Und wer liest, der leidet mit.

Die Erzählperspektive bleibt die gesamte Länge über unverändert, nur der Standpunkt der Protagonistin ändert sich. Gefühlswelten schwanken wie der Boden unter den Füßen oder die Wirkung der Einrichtungen einzelner Zimmer einer Wohnung. So ist der Roman dann auch unterteilt. Für die Protagonistin ist zunächst vor allem das Essen von zentraler Bedeutung und so stehen die Kapitel “Eßzimmer und Küche” auch im Mittelpunkt der Geschichte, die nach den Räumen einer Wohnung unterteilt ist.

Wer sieht den Schreibfehler? Ja, die Übersetzung orientiert sich nicht an der geübten Rechtschreibung. Jedes “daß” sticht heraus und stößt unangenehm auf. Darüber ärgert man sich mehr als über manche Eigenheit der Protagonistin. Solche Formalitäten lenken ab von der interessanten Gestaltung des inneren Konflikts, den auschweifenden Gedankengängen, die ansonsten so sprachlich schön formuliert sind.

Das geht einfach nicht in einem heute veröffentlichten Roman, zumal wenn selbst ältere Texte für Neuauflagen konsequent der gültigen Rechtschreibung angepasst werden. Es soll ja schließlich lesbar bleiben. Mit ganz viel guten Willen kann man damit der Übersetzerin unterstellen, dass sie genau das Konforme der Protagonistin zeigen wollte. Die sprachlichen Formulierungen wären dazu jedoch vollkommen ausreichend gewesen.

Der Roman hat das Tempo der Melancholie mit der ihr eigenen Längen, die immer in den Formulierungen von Gedankengängen als innere Monologe entstehen. Darin verliert man sich jedoch, so dass diese nicht weiter störend sind. Das sind die Momente, wo die Figur besonders nahbar wirkt, Höhepunkte der Erzählung. Höhepunkte anderer Natur gibt es übrigens schon innerhalb der ersten fünfzig Seiten, ohne dass das viel zur Geschichte beiträgt. Wer es nötig hat.

Trotzdem lässt die Erzählung die Lesenden nicht los, spielt mit den Gefühlen, wie die Autorin mit den Gefühlen der Protagonistin spielt. Wie begegnen wir Menschen, die fortwährend uns an unsere Makel erinnern und aufmerksam machen? Wie viel Beachtung schenken wir Bemerkungen, die uns verletzen? Was macht das mit uns? Und wie schauen wir selbst auf Makel der anderen, zumal in Zeiten, wo alles und jeder perfekt zu sein hat, wie uns die Mehrheit der Gesellschaft weißmachen möchte.Diese Fragestellungen bestimmen seit jeher den Alltag der Menschen. Gehen wir den Weg der Protagonistin oder nehmen wir einen anderen? Nicht nur wer Isabela Figueiredos “Die Dicke” gelesen hat, sollte sich diese Fragen stellen.

Autorin:

Isabela Figueiredo wurde 1963 in Mosambik geboren und ist eine portugiesische Schriftstellerin und Journalistin. Seit ihrem zwölften Lebensjahr lebt sie in Portugal und studierte Portugiesische Sprache und Literatur, bevor sie als Journalistin und Lehrerin tätig wurde. 1983 erschienen erste Texte von ihr, 1988 veröffentlichte sie ihren ersten Roman. In ihren Werken setzt sie sich mit Körper und Rassismus auseinander, zudem hinterfragt sie immer wieder den portugiesischen Kolonialismus.

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Erri de Luca: Fische schließen nie die Augen

Inhalt:

Ein Sommer vor fünfzig Jahren auf einer Insel im Golf von Neapel: In seinem bislang persönlichsten Buch erinnert sich Erri De Luca, wie er erstmals die magische Kraft der Wörter erkannte. Und dasss sich die Hand eines Mädchens anfühlt wie das Innere einer Muschel. (Klappentext)

Rezension:

Der Erzähler erinnert sich zurück an seine Kindheit am Golf von Neapel, an den flirrenden Sommer in der die Zahl der Lebensjahre genau so hoch ist, wie die Anzahl seiner Finger. Mit Zehn endet sie, die Kindheit und so schaut der Autor zurück und macht sich selbst zum Protagonisten seiner eigenen Novelle, die typisch für De Luca einmal mehr von einer atmosphärischen Leichtigkeit getragen wird.

Aus der Ich-Perspektive des Kindes, welches mit der Mutter die Ferien auf einer Insel vor Neapel verbringt, erzählt der Autor und lässt eintauchen in ein Italien nach Kriegsende. Die ersten Feriengäste erobern sich ihre Plätze, darunter ein gleichaltriges Mädchen, in dessen Bann der Junge gerät. Zuneigung zweier Kinder, Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen und nicht zuletzt der anderer.

Man taucht ein in die Geschichte, wie im Wasser zwischen den Fischerbooten, die der Junge beobachtet und sucht das Abenteuer, wie das Kind, welches sich mit einem einheimischen Fischer angefreundet hat und auch mal helfen darf. Wer schon Werke des Autoren gelesen hat, erkennt das wiederkehrende Motiv.

Überhaupt bleibt sich De Luca treu. Ein eingeübtes Schema wird hier wieder strapaziert. Nichts neues aus Italien, also. Egal, in welcher Reihenfolge man seine Erzählungen gelesen hat. Immer ist es der Junge, der in den Ferien auf der Insel nahezu frei umherstreunt, zwischen den Fischerbooten Antworten auf Fragen sucht, manchmal sogar welche findet. Das alles wird mit ruhiger Melancholie erzählt, gerade an der Grenze zu dem, was als Kitsch zu bezeichnen ist. Störend ist das nicht.

Dem Protagonisten begegnet die erste Liebe, die dieser nicht wirklcih einzuordnen ist, doch der erste Konflikt seines jungen Lebens wird damit heraufbeschworen. Aus der Sicht des erwachsenen Lesers wirkt das harmlos. Ein Handlungsstrang ist das, ohne Aufreger. Für die kindliche Hauptfigur, der Blick fast viel zu alt für das Alter, ist dies in dem Augenblick jedoch die ganze Welt.

So wie der Protagonist seine Umgebung und sein weibliches Gegenüber zu begreifen versucht, so nüchtern wirkt der Ton. Ausschweifungen finden sich bei De Luca nur in Form von wunderbaren Formulierungen, in die man sich hinein verliert. Sehr kompakt wird der Zeitraum von nur wenigen Wochen erzählt. Auch die Handlungsorte sind derer überschaubar.

Der Hafen, das Fischerboot, das Wohnhaus oder die Ferienunterkunft, der Strand. Wie geschrieben, Erri De Luca erzählt hier wieder die gleiche Geschichte, wie schon mehrfach, dies aber in Perfektion. Man fühlt sich in den kleinen Protagonisten hinein, der bald die Kraft der Worte finden wird, der Beobachter ist, beobachtet wird. Doch bleibt alles vergleichsweise harmlos. Große Überraschungen bleiben aus.

Trotzdem wirkt die Erzählung in ihrer ruhigen Tonalität, in der eigentlich nur der kindliche Protagonist greifbar wird, weniger die Mutter des Jungen. Schon das Mädchen, um die bald die Altersgenossen ebenfalls “kämpfen” werden, sind für Hauptfigur und Lesende kaum zu fassen. Man kann sich das dennoch alles bildlich vorstellen. Die Novelle wirkt, wie ein per Hand mit der Videokamera gedrehter Urlaubsfilm. Der Einzige, der sich dabei weh tun wird, ist der Protagonist selbst.

Das war es auch schon. Ein Roman ohne wirkliche Ecken und Kanten, zumindest das hat Erri de Luca schon einmal anders hinbekommen, doch zumindest welche glückliche Kindheit hat die schon? Man muss das nicht gelesen haben, bekommt jedoch den Kopf frei. Eine Novelle wie ein kleiner Erholungsurlaub ist das. Manchmal braucht man das auch. Wer würde da widersprechen?

Autor:

Erri De Luca wurde 1950 in Neapel geboren und ist ein italienischer Schriftsteller und Übersetzer. In zahlreichen Berufen arbeietet er zunächst und engagierte sich für Hilfslieferung während des Jugoslawien-Krieges. Autodidaktisch brachte er sich mehrere Sprachen bei, u.a. Althebräisch, womit er einige Bücher der Bibel ins Italienische übersetzte. 1989 veröffentlichte er sein erstes Buch. Im Jahr 2013 erhielt er den Europäischen Preis für Literatur, drei Jahre später den Preis des Europäischen Buches. Seine Erzählungen wurden mehrfach übersetzt. Der Autor lebt in Rom.

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Marietta Slomka: Nachts im Kanzleramt

Inhalt:

Politik zu erklären ist Marietta Slomkas Beruf: Die bekannte Journalistin moderiert im ZDF das heute journal und weiß, wie es hinter den Kulissen zugeht. In Nachts im Kanzleramt erklärt sie locker und verständlich, mit Anekdoten und praktischen Beispielen, wie Politik tatsächlich funktioniert und welche Insiderbegriffe man kennen sollte.

Wer dieses Buch gelesen hat, hat nicht nur den Durchblick, sondern ist auch fit für jede politische Debatte. Ein junges Buch für die Themen von heute! (Klappentext)

Rezension:

Die politische Debatte verliert sich in Details zu verlieren und am Ende erscheint das Ergebnis nur als fauler Kompromiss, der zudem bei vielen Menschen auf Unverständnis stößt. Doch, warum mahlen die Mühlen der Politik so langsam? Wie funktioniert das überhaupt, die Politik in der Hauptstadt und das staatliche Gefüge der Bundesrepublik? Wie entstehen Nachrichten und regiert Geld tatsächlich die Welt? Wenn ja, bei viel Grad wäscht man es?

Diese und andere Fragen hat die Nachrichten-Moderatorin Marietta Slomka zusammengestellt. Entstanden ist eine Sammlung von Grundlagenmaterial, welche Schule machen müsste.

Aufgelockert durch Karikaturen von Mario Lars und eigenen Anekdoten beschreibt die Autorin zunächst das politische System der Bundesrepublik, wie Wahlen und Mherheitsverhältnisse zustande kommt und danach, wie das Zusammenspiel in der Politik eigentlich funktioniert. Wie arbeiten die staatlichen Organe? Wie kommen Gesetze und Beschlüsse zustande und warum kommt es in der Praxis manchmal anders als in der Theorie?

Darauf folgen ein Schnellkurs Medien, sowie Wirtschaft und Europa, zuletzt das Wirken der internationalen Staatengemeinschaft. Auch hier geht die Autorin nicht vom Vorwissen aus, sondern bleibt bei den Grundlagen, von denen man vielleicht bereits viel kennen mag, jedoch nicht in allen Aspekten oder Übergänge und Unterschiede danach noch genauer umreißen können dürfte.

Betont sachlich zeigt sie Schwach- und Reibungspunkte des Systems Bundesrepublik auf, jedoch auch, wie und warum dieses gefüge funktioniert. Zusammenhänge werden so verständlich dargestellt.

Politisches Wissen frischt die Moderatorin auf oder beginnt es zu schaffen, je nachdem, von welchem Standpunkt aus das Werk gelesen wird. Mit diesem Werk Schulbibliotheken zu bestücken oder es im Unterricht zu verwenden, ist vielleicht gar keine so schlechte Idee.

Bei diesem Publikum dürften beim Lesen auch keine Längen entstehen, was bei politisch Versierten durchaus der Fall an der einen oder anderen Stelle ist. Mancher wird sich sagen, das weiß man doch. Aber wirklich alles?

Autorin:

Marietta Slomka wurde 1969 in Köln geboren und ist eine deutsche Journalistin und Fernsehmoderatorin. Zunächst studierte sie Volkswirtschaftslehre und Internationale Politik in Köln und der University of Kent in Canterbury/England, bevor sie 1995 dieses als Diplom-Volkswirtin in Köln abschloss.

Von 1991-1996 war sie freie Mitarbeiterin des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln, ab 1994 für die Kölnische Rundschau tätig.

Nach einem Volontariat bei der Deutschen Welle arbeitete sie zunächst für das ZDF als Parlamentskorrespondentin in Bonn, bevor sie 2000 die Moderation des Nachrichtenmagazins heute nacht übernahm, ein Jahr später dann das heute journal.

2013 erhielt sie den Deutschen Fernsehpreis für die beste Informationssendung, 2015 den Janns-Joachim-Friedrichs-Preis. Neben dem heute journal moderierte und produzierte sie bis dato weitere Sendungen und Formate für das ZDF.

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Empfehlung: Fernando Pessoa – In Evaristos Apotheke

Vorab: Außerhalb der ausführlich rezensierten Werke gibt es natürlich noch andere empfehlenswerte Literatur, die sicher in dem einen oder anderen Bücherschrank gehört und seine Fans sucht. Für diese gibt es nun die Kategorie -Empfehlungen- auf diesem Blog.

Zählt man bedeutende Schriftsteller oder Dichter der Geschichte Portugals auf, kommt man sicher an Fernando Pessoa nicht vorbei, der von 1888 bis 1935 lebte und unzählige Werke schuf, die teilweise über einen fragmentarischen Stil nicht hinauskamen. Zwei Erzählungen von ihm, die geblieben sind und sich heute noch gut lesen lassen, vorausgesetzt, man findet sich in den poetisch-philosophischen Schreibstil des Autoren ein, sind “In Evaristos Apotheke” und “Der Bankier und Anarchist”, die nun der kupido-Verlag neu aufgelegt hat. Zwei Stücke, die beinahe drehbuchgleich daherkommen, mit Sprache und Gedankengängen spielen, auf die man sich jedoch einlassen, einen ruhigen Moment dafür finden muss, um sie wirken zu lassen. Wer dies schafft, wird an Fernando Pessoae Gefallen finden.

Autor: Fernando Pessoae
Titel: In Evaristos Apotheke/Der Bankier und Anarchist (1935)
Verlagsexemplar/Erzählungen
Seiten: 128
ISBN: 978-3-96675-053-0
Hardcover
Verlag: kupido

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Mario Schneider: Die Paradiese von gestern

Inhalt:

Ella und Rene, ein junges Paar aus Ostdeutschland, verbringen nach der Wende ihren ersten Sommer in Südfrankreich. Dabei geraten sie in das marode Schlosshotel der Madame de Violet, einer Gräfin, die mit ihrem Diener wie in einer vergessenen Zeit lebt. Sie werden ihre letzten Gäste sein. Die beiden erleben die Verlockungen und Enttäuschungen einer neuen Welt und die Zerbrechlichkeit ihrer fest geglaubten Beziehung. (Klappentext)

Rezension:

Die Historie einer vergangenen Welt oder ein französischer Film mit Überlänge in Buchform. Dies ist der Eindruck, nachdem man in die Geschichte eines Sommers auftaucht, genauer ein junges Paar bei ihrer ersten großen Reise begleitet. Die politische Landkarte hat sich gerade gewandelt und so können Ella und Rene nach der Wende erstmals durch Europa reisen und landen in einer Szenarie einer untergangenen Welt.

Wie aus der Zeit gefallen wirkt das marode Schlosshotel, welches auf einem zugewachsenen Hügel thront, ebenso wie auch seine letzten Bewohner von der Welt da draußen scheinbar vergessen wurden. Doch, Madame de Violet, alter französischer Adel, und ihr treuer Diener Vincent nehmen die beiden auf, was nicht nur ein Ende bedeuten soll, sondern alle Protagonisten vor persönlichen Herausforderungen stellen wird.

Mario Schneider versteht es, einen Film vor dem inneren Auge ablaufen zu lassen, was nicht zuletzt an den von ihm geschaffenen Figuren liegt. Allesamt haben sie Ecken und Kanten, sind nicht gerade Sympathieträger, was sie jedoch im zunehmenden Handlungsverlauf zu interessanten Entscheidungen und damit verbundenen Wechseln treibt. Dabei werden mehrere Geschichten erzählt. Natürlich die Liebesgeschichte, die irgendwie immer vor französischer Kulisse vorkommen muss, aber eben auch das Vergehen von Epochen und das Aufeinanderprallen gesellschaftlicher Gegensätze. Gerade letzteres ist dem Autoren gut gelungen. Auf diese Dynamik kann man sich einlassen, wenn man sich auf den zu weilen sehr ruhigen Erzählstil eingelassen hat.

Dreh- und Angelpunkt dieses Kammerspiels auf französischen Boden sind fünf belastete Figuren, die nicht nur gegenseitig, sondern auch bei Lesenden ein Wechselbad der Gefühle auslösen mögen. Kurze Sätze sind da selten. Mario Schneider beherrscht die Kunst der Ausschweifung, besonders wenn die Protagonisten sich selbst und ihren Gedanken ausgeliefert sind. Gegensätzlichkeiten werden hier teils bis zum Äußersten ausgespielt. Die Logik der Figuren erschließt sich erst nach und nach.

Damit einhergehend ist ein ständiger Perspektivwechsel, der auch die Geschwindigkeit der Erzählung bestimmt. Nach und nach fügen sich so Puzzleteile zusammen, die zunächst für den Lesenden, dann erst für die Protagonisten ein Gesamtbild ergeben und spätestens nach der Hälfte der Seiten eine in sich schlüssige Erzählung. Auch Rückblicke der Figuren tragen zur Abwechslung bei, sonst wäre hier etwas Mehltau zu viel.

Wer eine Liebesgeschichte sucht, ist mit “Die Paradiese von gestern”, ebenso gut bedient, wie die jenigen, die französisches Flair genießen möchten oder gar, in nur punktuellen Ansätzen ein kontinentales “Downtown Abbey”. Es ist jedoch auch die Erzählung über die Welten alten und neuen Adels, über das Zurechtfinden in einer neuen Welt, in der zum Ende hin einiges offen bleibt, wie dies auch, und hier sind wir wieder in der Nähe eines Films, einige Fragen offen bleiben, die man je nach Sympathie für die Figuren für sich selbst beantworten muss.

Hier sieht man das Können Mario Schneiders, der als Filmregisseur und Komponist natürlich genau weiß, wo Auslassungen besonders funktionieren. Jedoch hätte der Autor dies auch im eigentlichen Handlungsverlauf beherzigen können. Was zum Ende hin klappt, hätte auch im eigentlichen Verlauf gut funktioniert. Dennoch muss ich konstatieren, dass sich meine Einstellung zum Roman, die sich vor allem über die Protagonisten gebildet hat, nach und nach ins Positive gewandelt hat, so dass eine runde Geschichte vorfindet, wer sich darauf einlassen und mehrere erzählerische Längen aushalten kann.

Autor:

Mario Schneider wurde 1970 geboren und ist ein deutscher Regisseur, Autor und Filmkomponist. Nach der Schule absolvierte er eine Berufsausbildung zum Metallurgen für Hüttentechnik und studierte anschließend Musikwissenschaften, Philosophie und Kunstgeschichte, gefolgt von einem Kompositions- und Klavierstudium in Leipzig, im weiteren Verlauf München.

Nach seinem Abschluss als Diplomkomponist gründete er eine Filmproduktionsfirma und begann als Dokumentarfilmer und Regisseur zu arbeiten. Bekannt wurde er u. a. durch die Mansfeld-Trilogie (2005-2013). 2014 erschien sein erstes Buch. Ein Jahr später erhielt er den Klopstock-Förderpreis für neue Literatur, danach den Deutschen Filmmusikpreis. Er ist Mitglied der Akademie der Künste Sachsen-Anhalt.

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Katrin Schumacher: Naturkunden – Füchse: Ein Portrait

Inhalt:

Welch ein Tier. Wo es auftaucht, verändert es die Spielregeln.

Geschmeidig und klug macht sich Katrin Schumacher in ihrem persönlichen Tierportrait auf einen natur- und kulturgeschichtlichen Beutezug durch Fuchsbaue und Hühnerställe, Pelzgerbereien und Stadtlandschaften, um den realen und imaginären, den ebenso listigen wie charmanten Güchsen auf den Pelz zu rücken. (Klappentext)

Einordnung:

Das Werk ist Teil der Reihe “Naturkunden”.

Rezension:

Nicht allein einen wissenschaftlichen Blick gibt die Buchreihe “Naturkunden” auf verschiedene Themen, immer auch wird der Mensch und sein Einwirken in Bezug zum Objekt gesetzt. So kommt es, das auch der Fuchs ins Visier genommen wird, dessen kulturgeschichtliche Bedeutung die Journalistin Katrin Schumacher einmal beleuchtet hat. Entstanden dabei ist ein kompakter Rundumblick.

Und mehr leider auch nicht. Die Biologie wird hier schmählich behandelt. Zwar werden einige Aspekte des Lebenszyklus’ und Sozialverhaltens erläutert, hintenangestellt ein kleiner Überblick zu den verschiedenen Unterarten, doch dominiert in den Zeilen der Blick des Menschens.

Ein Wandel wird beschrieben, vor allem vom Pelzlierferanten und begehrten Jagdziels, welches nicht immer einfach zu erreichen ist, zum Kultobjekt, welches als grafisches Motiv auf allen möglichen Gegenständen prankt, zudem neben den Menschen inzwischen der zweite große Stadtbewohner ist. Der Blickwinkel bleibt, zu wenig erfährt man über Natur und Biologie, zu lange scheint die Autorin durch Pelzgerbereien und mit Jägerinnen umhergestreift zu sein. Wäre dies ein Film, würde man die obligatorische Texttafel vermissen, dass hierfür kein Tier zu Schaden gekommen ist.

Der wissenschaftliche Blick wird zu kurz gehalten. Biologinnen, wie etwa Adele Brand oder Sphia Kimmig liefern ein ausführlicheres und fundierteres Portrait und halten sich nicht mit Beschreibungen etwa auf, wie Pelzhandel früher wirkte und Gerbereien arbeiten. Wer jedoch an dieser historischen Komponente mehr interessiert ist, wird bei Katrin Schumacher an Informationen fündig. Es wirkt dennoch und vor allem deswegen irritierend, dass diese Art von Portrait so ihren Eingang in die Reihe “Naturkunden” gefunden hat.

Wer zudem schon Grundlagenwissen besitzt, wird nichts neues mehr hier raus entnehmen. So bleibt den Fans von Meister Reineke nur, andere Literatur zu suchen.

Autorin:

Katrin Schumacher wurde 1974 in Lemgo geboren und ist eine deutsche Literaturwissenschaftlerin, Journalistin, sowie Jurymitglied des Preises der Leipziger Buchmesse. Nach der Schule absolvierte sie in Bamberg, Antwerpen und Hamburg ein Studium der Germanistik, Journalistik und Kunstgeschichte und schreibt seit dem Literaturkritiken für den Hörfunk, moderierte für mehrere Radiosender und übernahm nach ihrer Promotion verschiedene Lehraufträge bis ins Jahr 2015.

Danach war sie Redaktionsleiterin im MDR für “Literatur, Film, Bühne”, seit 2020 für “Musik und Kunst”. Ab 2016 war sie Redaktionsleiterin des MDR-Ressorts „Literatur, Film, Bühne“, seit 2020 ist sie stellvertretende Redaktionsleiterin des Ressorts “Musik und Kunst”. Vorher arbeitete sie als Literaturredakteurin und ist zudem Mitglied des Buchzeit-Teams des Senders 3sat.

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SAID: Ein vibrierendes Kind

Inhalt:

In seinem nachgelassenen Roman “Ein vibrierendes Kind” erzählt SAID von seiner Kindheit und Jugend im Iran zwischen 1947 und 1965. Die Eltern sind geschieden und das Kind wächst beim Vater auf, der als Offizier viel unterwegs ist, sich aber liebevoll um seinen Sohn kümmert.

In seinem einfach gehaltenen, bildreichen Stil erzählt SAID von einer Welt und Gesellschaft, die so nicht mehr existiert, die ihn prägt und schützt, aber auch seinen Widerstand hervorruft, bis er das Land für immer verlässt – nicht zuletzt ermuntert durch seinen Vater. “Ein vibrierendes Kind” ist ein ans Herz gehendes Buch. (Klappentext)

Rezension:

Das Manuskript schon fertig, suchte der Autor und Poet einen passenden Verlag dafür, fand ihn und starb kurz vor der Veröffentlichung seiner Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend in einem längst vergangenen Land. SAID, so sein Künstlername, der sich für politisch Verfolgte einsetzte, sich immer auch über sein eigenes Werk hinaus für die Vermittlung persischer Literatur engagierte, wandelte hier zwischen den Welten.

Und so liegt mit seinem Text “Ein vibrierendes Kind” eine Mischform vor, zwischen Epik und Lyrik, fast einem Langgedicht, dessen Abschnitte sich jedoch auch getrennt voneinander lesen lassen. In diesem Stil muss man erst einmal hineinfinden. Die ungewöhnliche Schreibweise, Großbuchstaben komplett außen vor zu lassen, tut ihr übriges, volle Konzentration denen abzuverlangen, die sich darauf einlassen, um dann in eine wundersame Welt der Erinnerungen einzutauchen.

ein kind für den samowar

jeden morgen wacht das kind mit seinem summen auf.
am abend arbeitet das kind für den samowar.
glühende kohle wird in einen kleinen drahtkorb gelegt, der korb hat
einen langen stiel, das kind greift zu seinem ende und rennt in den patio.
es dreht den kohlenkorb an seiner seite im kreis.
je schneller das kind ist, desto früher glüht die kohle.
dann rennt es ins haus und liefert die kohle für den samowar.’
großmutter mault, die tätigkeit sei zu anstrengend.
doch das kind verteidigt jeden abend sein naturrecht auf das amt.
es ahnt nicht, daß bald die moderne gegen das kind siegt.
bald kommen samoware mit öl.
dann steht das kind da –
ohne auftrag, ohne würde.

SAID: Ein vibrierendes Kind

SAID erzählt vom Aufwachsen zwischen den Frauen seines Vaters, Ausflügen und den feinen Geflogenheiten der Erwachsenen, die das Kind beobachtet, vom Zwischenspiel im Internat und dem Drang zur Kontrolle der Großmutter. Melancholie sticht durch, ebenso der kritische Blick, der schon dem kleinen Jungen und später dem Jugendlichen nicht fehlt, der seinen Weg sucht, finden und vom Vater gefördert wird. Schon aufgrund der Art des Textes, der sich nicht wirklich einer literarischen Gattung zuordnen lässt, der Verlag spricht vom Roman, ist dies etwas besonderes, wie auch der Autor zeit seines Lebens immer umtriebig war.

Autor:

SAID, eigentlich Said Mirhadi, wurde 1947 in Teheran geboren und war ein iranisch-deutscher Schriftsteller. Seit 1965 lebt er in München, ging 1979 für kurze Zeit in den Iran zurück, um dann entgültig nach Deutschland zurückzukehren. 2004 erhielt er die deutsche Staatsbürgerschaft und schrieb Prosa und Lyrik, war zudem an der Produktion von Hörspielen beteiligt. Der Schriftsteller war Mitglied des PEN-Zentrums, 1995-1996 Vizepräsident dessen und von 2000-2002 Präsident des PEN-Zentrums Deutschland. Er wurde mehrfach für sein Werk ausgezeichnet, etwa 2006 mit der Goethe-Medaille und 2014 mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland. Er starb im Jahr 2021.

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Laurent Petitmangin: Was es braucht in der Nacht

Inhalt:

Fus und Gillou, 10 und 7, sind sein ganzer Stolz. Doch dann stirbt seine Frau, und er steht allein da mit seinen Jungs. Die Arbeit als Monteur bei der Staatsbahn SNCF, Haushalt, Erziehung: Er gibt sein Bestes, bringt die Jungs zum Fußball, zeltet mit ihnen in den Ferien. Die ersten Jahre läuft alles einigermaßen glatt. Nur Fus wird in der Schule schlechter, sodass er schließlich nicht in Paris studieren kann. Der Vater tröstet sich damit, dass zwischen ihnen alles beim Alten bleibt – bis er entdeckt, dass der 20-Jährige mit einer rechtsextremen Clique rumhängt.

Wie fühlt man sich, wenn das eigene Kind in falsche Kreise gerät, die eigenen Werte verrät? Was kann man tun? Eine Tragödie zwingt den Vater zu einer Antwort. (Klappentext)

Rezension:

Eine Geschichte gleichsam eines französischen Films. okay, ganz so schlimm ist die Sache nicht. Vielmehr hat Laurent Petitmangin mit “Was es braucht in der Nacht” ein bezeichnendes Autorendebüt vorgelegt. Hier erzählt er die Geschichte einer Entfremdung. Ein Schicksalsschlag entfernt, zunächst schleichend, den Vater von seinem ältesten Sohn, der haltsuchend in den Einfluss einer rechten Gruppe gerät und somit sich von den elterlichen Idealen immer mehr entfernt.

Der Vater sieht dies mit Sorge, doch, was soll, kann er tun? Im direkten Zusammenspiel ändert sich zunächst auch nichts. Schnell ist eine gemeinsame Ebene gefunden. Der Alltag muss funktionieren, nicht zuletzt auch des jüngsten seiner Söhne wegen. Das tut es, bis sich die Katastrophe Bahn bricht. Doch, was bleibt, was muss, wenn selbst Blut nicht mehr dicker als Wasser zu sein scheint?

Laurent Petitmangin beschreibt einfühlsam das Auseinanderbrechen einer Familie, deren Protagonisten sich immer weiter von einander entfernen und doch nicht ohne einander können. Das Unverständnis des Einen wird ebenso beschrieben, wie auch das Hineinschlittern in eine Gefahrenzone, die beide Protagonisten nicht sehen oder kontrollieren können.

Für Frankreich selbst ist dies eine hoch aktuelle Erzählung, ist sie doch bezeichnend für eine extreme Spaltung der gesellschaftlichen Sichtweisen, für deren in einem Teil eine Fundamentalisierung in Richtung Rechtsextremismus eine annehmbare Option erscheint. Ohne zu sehen, was dies für Folgen haben kann. In einer Zeit, in der eine rechtsextreme Präsidentschaft in Frankreich im Rahmen des Möglichen erscheint. Der Autor nimmt sich die Zeit jedoch auch für das Infragestellen einer Vater-Sohn-Beziehung. Wie weit reicht der Einfluss von Eltern und was tun, wenn dies einmal nicht der Fall ist, und sich alles auf den Abgrund hinzu bewegt?

Es ist ein erschütternder und zugleich nachdenklicher Roman, ruhig in seinen Beschreibungen, ohne lange Strecken vorzuweisen. Das gibt die kompakte Form einfach nicht her. Die Konzentration zudem, auf eine Perspektive, tut ihr übriges, diese Geschichte zu etwas Besonderen zu machen. An der einen oder anderen Stelle bin ich dabei mit der Übersetzung nicht wirklich glücklich. Hier wäre die Vorlage des französischen Originals interessant. Auch das Ende ist vielleicht etwas zu einfach. Ansonsten jedoch hat Petitmangin durchaus eine runde erzählung vorgelegt, für die man sich einen ruhigen Moment nehmen sollte.

Autor:

Laurent Petitmangin wurde 1965 in Lothringen geboren und studierte in Lyon, bevor er für die französische Fluggesellschaft Air France zu arbeiten begann. Nach verschiedenen Stationen rund um die Welt, lebt er heute in Paris. “Was es braucht in der Nacht” ist sein erster Roman.

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